Das Bundesverfassungsgericht hat die vorübergehende Freilassung eines Mannes angeordnet, der vor 40 Jahren vom Vorwurf des Mordes freigesprochen wurde, aber zwischenzeitlich infolge einer umstrittenen Gesetzesänderung wegen desselben Vorwurfs erneut in Untersuchungshaft saß.
Eine unrechtmäßige Inhaftierung sei mit erheblichen, irreversiblen Nachteilen verbunden, so das Gericht in seiner Abwägung. Zur Minimierung der Fluchtgefahr müssten allerdings andere, weniger eingreifende Maßnahmen getroffen werden.
"Mordfall Frederike": Anklage endet in Freispruch
1982 wurde der Tatverdächtige Ismet H. wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung und Tötung der 17-jährigen Frederike von Möhlmann vom LG Lüneburg zu lebenslanger Haft verurteilt. Der BGH hob das Urteil jedoch auf und verwies es an das LG Stade, welches den Angeklagten ein Jahr später freisprach. 2012 wurde eine molekulargenetische Untersuchung von damals gefundenen Spermaspuren auf einem Stück Toilettenpapier im Slip des Opfers durchgeführt. Diese DNA-Spuren ließen sich - so jedenfalls das Hauptgutachten - eindeutig Ismet H. zuordnen. Dennoch wurde das Verfahren zunächst mangels Gründen gemäß § 362 StPO a.F. nicht wieder aufgenommen.
Wiederaufnahme nach 40 Jahren
Als § 362 StPO jedoch im Jahr 2021 um die hochumstrittene Nr. 5 ergänzt wurde, welche die Möglichkeit einer Wiederaufnahme bei besonders schweren Delikten wie Mord oder Völkermord bereits dann vorsieht, wenn aufgrund nachträglich verfügbarer Beweismittel eine Verurteilung sehr wahrscheinlich ist, hat das LG Verden den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Wiederaufnahme im März dieses Jahres für zulässig erklärt und zudem wegen Fluchtgefahr Untersuchungshaft angeordnet. Von einer konkreten Normenkontrolle der Neuregelung gemäß Art. 100 Abs. 1 GG vor dem BVerfG hatte das Gericht damals abgesehen. Der Kammer seien die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Norm zwar bekannt, hieß es in dem zugrundeliegenden Beschluss, sie sei jedoch nicht von deren Verfassungswidrigkeit überzeugt.
Verfassungsbeschwerde vorübergehend erfolgreich
Nun hat das BVerfG der Verfassungsbeschwerde des Tatverdächtigen per Eilbeschluss zum Teil stattgegeben und seine vorübergehende Freilassung angeordnet. Ob § 362 Nr. 5 StPO verfassungskonform sei, könne zwar erst im Hauptsacheverfahren geklärt werden. Die Folgenabwägung falle aber zu seinen Gunsten aus, da die Nachteile, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Antrag aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, dem Antrag in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre, überwögen. Die Untersuchungshaft greife in sein Grundrecht aus Art. 103 Abs. 3 GG, nach einem abgeschlossenen Strafverfahren keiner weiteren Strafverfolgung ausgesetzt zu sein, sowie in sein Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 1 GG, keine ungerechtfertigte Freiheitsentziehung hinnehmen zu müssen, ein.
Quelle: Beck-online